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Im vergangenen Dezember reiste ich nach Haiti, zum dritten Mal seit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 und zum zwölften Mal in ebenso vielen Jahren.
Die Katastrophe hat Hunderttausende Opfer gefordert und über eine Million Menschen obdachlos gemacht. Das Quartier Fort National in Port-au-Prince, ein Labyrinth von engen Gassen mit ärmlichen Hütten, ist eines der am stärksten betroffenen Viertel. Ich habe früher schon viel Zeit dort verbracht, mit der Kamera, aber auch privat. Mein guter Freund Simon, mit dem mich viele Erlebnisse verbinden, wohnt dort. Monate nach dem Erdbeben lebt seine vielköpfige erweiterte Familie – ex-Frauen und -Freundinnen, Kinder, Nachbarn – immer noch zwischen Bergen von Schutt. Noch im Juni kamen beim Aufräumen Schuhe und Kleider von Vermissten und Überreste von Verschütteten zum Vorschein. Viele Bewohnerinnen und Bewohner von Fort National sind in das nahe gelegene, provisorische Lager auf dem Champs de Mars gezogen und konnten bis heute nicht in ihr Quartier zurückkehren.
Bereits während früherer Aufenthalte in Haiti hatte ich Portraits aufgenommen, meistens waren diese ungeplant aus der Situation heraus entstanden. Zum Jahrestag des Erdbebens hatte ich mir vorgenommen, in einer zusammenhängenden Serie Menschen zu portraitieren. Während drei Tagen ging ich mit Simon durch sein Quartier. Zusammen besuchten wir Nachbarn, Freunde und Verwandte, sassen herum, redeten, suchten den kühlenden Schatten und irgendwann begann ich zu fotografieren.
Um meine Bilder akustisch zu untermalen, hatte ich schon früher die Schriftstellerin Yanick Lahens um einen Essay zum Jahrestag des Erdbebens gebeten. Die Idee war, dass sie ihren Text im «Rap créole» selber lesen würde, mein Aufnahmegerät war bereit. Doch als ich Yanick vor meiner Abreise im Hotel Oloffson in Port-au-Prince traf, war der Text noch nicht fertig. Nachdem Yanick Lahens die Bilder gesehen hatte, schickte sie mir, ohne weiteren Kommentar, statt des bestellten Essays das folgende Gedicht.
La vie m'a prise à revers de mes songes
Je la regarde droit dans les yeux et lui dis:
L'espoir n'est pas ma seule réponse
J'ai traversé l'orage, les cyclones, les inondations et le feu,
la souffrance plantée comme un coutelas dans les reins.
Mon rire est aussi large que ma douleur
Mon partage plus chaud que le pain à l'aube.
Homme, je porte sans témoin les coups et blessures
Femme, une force est endormie dans le balancement
de mes hanches
Jeune, je rap créole pour compter les doigts du soleil
Vieillard, j'entends venir la mort sur la crête des vagues,
pieds nus, de blanc vêtue.
Enfant, je veux planter mes dents dans un fruit rouge-vie.
Attention!!!
Nous faisons quelques fois foule.
Sans papiers, sans domicile et nous mettons le feu
aux calendriers.
Nos silences sont aussi hallucinés et soudains que nos colères.
Derrière nos yeux point de nuit mais la douceur irisée
des jours tranquilles.
Derrière nos yeux point de nuit mais les apparitions
phosphorescentes
de nos Mystères et de nos Dieux.
Quelques fois nous traversons les miroirs bien calés
sur nos vertiges
jusqu'à l'île marine tout au fond des mers
Jusqu'à la lointaine Guinée, au séjour de nos morts.
Il nous arrive d'être au dela de la vie.
Die 1953 in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince geborene Autorin hat in Paris Literaturwissenschaft studiert und unterrichtete viele Jahre an der Ecole Normale Supérieure in Port-au-Prince. Sie arbeitet für Radio und Zeitungen und engagiert sich in der Jugendarbeit. Ihr erster Roman «Tanz der Ahnen» erschien 2004 auf Deutsch. Am 8. März 2011 erscheint im Zürcher Rotpunktverlag Yanick Lahens neues Buch: «Und plötzlich tut sich der Boden auf».
Foto: Rotpunktverlag